Freitag, 13. November 2015

Eindrücke aus Passau

Eigentlich wollten wir länger bleiben. Eigentlich hatten wir uns das auch ganz anders vorgestellt. Aber das Leben ist selten so, wie ich es mir ausmale, und dass nicht alles genau so ist, wie andere es behaupten, wusste ich vorher auch schon.

Vor Kurzem sind wir zu viert nach Passau gefahren, weil wir gehört hatten, dass die Helfer, die sich um die Flüchtlinge kümmern, am Ende ihrer Kräfte seien, und wollten den Helfern helfen. Natürlich kam noch so manch anderer Aspekt zu unserer Motivation hinzu: Neugierde, wie die Situation nun wirklich ist, Lust aufs Abenteuer, ein bisschen Gutmenschentum und Heldenhaftigkeit, und auch einfach Freude an der Arbeit mit Menschen, egal ob Helfern oder Flüchtlingen.

In Passau haben wir sehr schnell gemerkt, dass die Helfer keineswegs am Ende ihrer Kräfte sind, sondern unglaublich motiviert und jeden Tag neue Freiwillige dazukommen. Wir haben gemerkt, dass wir nicht wirklich notwendig sind - hilfreich schon und auch gern gesehen, aber es gab keine Welt, die wir hätten retten müssen. Also waren wir erst kurz frustriert, weil alles anders war, als wir uns das vorgestellt hatten, und haben dann beschlossen, einfach so mitzuarbeiten, die Welt nicht zu retten, sondern nur das zu tun, was die anderen Helfer auch tun: Brote schmieren, Kisten sortieren, Tee kochen, Essen ausgeben, lächeln, dasein, gelegentlich mit einzelnen Flüchtlingen reden (auf Englisch, Deutsch oder mit Händen und Füßen), Kleiderspenden auspacken und in Regale räumen, Luftballons für Kinder aufblasen, Erbrochenes aufwischen, den Zeltboden fegen, Müllsäcke zum Container tragen und mit der Polizei Kaffee trinken. Und weil die Randzeiten immer etwas knapper mit Helfern besetzt waren, haben wir uns aufgeteilt; zwei haben morgens um halb Sieben mit der Frühschicht begonnen, und zwei haben abends bis zum Schluss gearbeitet, meistens bis kurz nach Zwei.


Bei all dieser 'Helfernormalität' hätte ich nicht erwartet, wie besonders die Zeit dann geworden ist. Mich haben so viele Menschen beeindruckt, fasziniert und nicht mehr losgelassen. So viele Bilder sind in meinem Kopf und Herz, dass ich gar nicht weiß, wie ich das alles beschreiben soll. Ich fange also einfach an, Bild für Bild und Mensch neben Mensch zu stellen.

Ein Bäckereibesitzer aus Passau brachte jeden Tag kistenweise Brötchen vorbei. Oft ließ er Baguette aufschneiden und mit Frischkäse bestreichen, extra für die Flüchtlinge. Als wir uns im Vorbeigehen in seiner Bäckerei einen Kaffee kaufen wollten, durften wir ihn nicht bezahlen - er hatte uns gesehen und seiner Verkäuferin gesagt, dass der Kaffee 'vom Chef' sei.

Eine junge Frau, die ihr Kind vor den Bauch gebunden trug, sprach mich auf Englisch an, um mir ihre Familie vorzustellen und mir zu danken für alles, was ich und andere Helfer ihnen auf ihrer Flucht Gutes getan hatten. Sie war schon seit zehn Tagen unterwegs und mittlerweile total erschöpft, fand aber immer noch die Kraft, sich um ihre Kinder zu kümmern und sie zum Lachen zu bringen. Als sie weitergehen mussten, ließ sie ihr Baby zurückwinken und rief mir zu: "God bless you!"

Als das Zelt eines Abends sehr voll war und die Menschen hungrig, gab es für die Kinder Nudeln mit Tomatensoße - sehr kleine Portionen und nur für die Kinder gerade genug. Die Männer haben mir die Plastikteller aus den Händen reißen wollen, und ich musste nicht nur mit Worten und Blicken sehr deutlich werden, sondern sie auch tatsächlich wegschieben, um den Kindern ihr Essen geben zu können. Sie konnten nicht verstehen, warum Kinder wichtiger sein sollten als Männer, und warum sie Käsesandwiches essen sollten, wenn die Kinder etwas Warmes bekamen.

Jeden Tag, wenn wir in unsere Unterkunft kamen, fragten uns die alten Schwestern des Klosters, wie die Arbeit gewesen war. Selbst die, die eigentlich schon ziemlich dement waren, wollten alles wissen und lebten so mit uns mit. Sie schauten jeden Tag die Nachrichten und beteten immer für die Flüchtlinge, die Helfer und besonders für uns. Sie gaben uns für die Zeit eine echte Heimat und waren unsere Familie.

Eigentlich sollte niemand in 'unserem' Zelt übernachten, es war nur als Durchgangsstation vor der Weiterreise gedacht. Manchmal (bzw. erschreckend oft) kam es aber doch vor, dass Menschen über Nacht bleiben mussten, weil sie nicht mehr weiterkamen und in den umliegenden Hallen kein Übernachtungsplatz mehr war. Der Boden des Zeltes war schrecklich: ein Holzboden, über den tagtäglich tausende Menschen gehen, wo gegessen und getrunken wird, Kinder spielen, sich immer wieder mal jemand drauf erbricht. Auch, wenn wir den Boden so oft wie möglich gefegt haben, wurde er mit der Zeit immer schleimiger und ekliger. Zum Sitzen gab es nur Bierbänke, und sonst nichts im Zelt, wenn man mal von den Absperrgittern absieht. Es war furchtbar, mitansehen zu müssen, wie die Menschen zu erschöpft waren zum Sitzen, und sich in ihrer Verzweiflung und Kraftlosigkeit auf diesen Boden legten. Es verdreht mir heute noch das Herz, wenn ich daran denke.

Manchmal, wenn nicht so viel los war, haben wir uns mit den Kindern Luftballons über die Absperrungen zugeworfen. Es war so schön zu sehen, wie die Kinder sich gefreut haben, und wie auch die Erwachsenen lächeln mussten, wenn sie die Kinder so fröhlich spielen gesehen haben.

Eine Helferin hat erzählt, dass sie in der Arbeit mit ihrem Chef darüber geredet hatte, dass sie so gerne helfen wollte und nicht wusste, wie. Am Tag darauf meinte ihr Chef, er habe gehört, dass im Zelt am Bahnhof Helfer immer willkommen seien, und dass sie jetzt in ihrer Arbeitszeit dorthin gehen solle - er würde sie dafür freistellen.


Letztendlich mussten wir früher als geplant wieder nach Hause fahren, weil sich drei von uns so fies erkältet hatten, dass an Arbeiten erst mal nicht mehr zu denken war. Jetzt sind wir also wieder in unserem Kloster und kurieren uns aus...


Ach ja, eines noch: wir Schwestern haben im Ordenskleid gearbeitet. Wir haben dafür nur positive Reaktionen bekommen - etliche der Flüchtlinge haben uns mit 'Sister' angesprochen und wussten, was wir sind, und hatten großen Respekt vor uns. Viele muslimische Frauen (aber auch einige Männer) haben mit uns Kontakt aufgenommen und das Gepräch mit uns gesucht. Die anderen Helfer und die Polizisten waren vor allem neugierig und auch etwas überrascht, dass es so junge und normale Ordensleute gibt. Keine von uns wurde in Passau jemals in irgendeiner Weise angefeindet oder negativ behandelt wegen ihres offen zur Schau getragenen Christseins.