Montag, 15. März 2021

Segen für alle oder für viele

Die Kongregation für die Glaubenslehre stellt fest, dass die Kirche nicht die Vollmacht habe, Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts zu segnen. Wer die Erläuterungen dazu lesen möchte, kann das hier tun - ich werde mich im Folgenden auf einige Argumente daraus beziehen.

Nehmen wir kurz einmal an, dass das so stimmt, dann folgt logisch auch...

... dass Valentinstagsgottesdienste dringend zu untersagen sind, denn dort werden Paare gesegnet, ganz gleich welchen Standes. Nachdem die Glaubenskongregation argumentiert, es sei "nicht erlaubt, Beziehungen oder selbst stabilen Partnerschaften einen Segen zu erteilen, die eine sexuelle Praxis außerhalb der Ehe (das heißt außerhalb einer unauflöslichen Verbindung eines Mannes und einer Frau, die an sich für die Lebensweitergabe offen ist) einschließen", muss dies für jede Form von außerehelicher Beziehung gelten, nicht nur für gleichgeschlechtliche, und auch für diejenigen ehelichen Beziehungen, die ausdrücklich und prinzipiell nicht offen für die Lebensweitergabe, sprich für Kinder, sind. Ob ein gleichgeschlechtliches Paar tatsächlich Sex hat, wird hier nicht hinterfragt, sondern einfach vorausgesetzt - und ehrlich gesagt können wir das vermutlich realistisch auch für die allermeisten anderen Paare voraussetzen. Ich finde es trotzdem bezeichnend, dass das Thema Sex außerhalb der Ehe implizit weitaus sündhafter beurteilt wird, wenn ein Paar homosexuell ist, denn ansonsten wäre mein nächster Punkt kirchlich schon längst sanktioniert worden.

... dass Verlobungen aus eben genannter Argumentation heraus keinen kirchlichen Segen mehr erteilt bekommen dürfen - allerdings sieht das Benedictionale für eine Verlobung eine eigene Segensfeier vor. Können wir also streichen.

... dass Segnungen von Motorrädern, Traktoren, Schiffen und was-weiß-ich-noch-allem ok sind, wohingegen sie Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften "die Absicht zum Ausdruck bringen [würde], [...] einen Entschluss und eine Lebenspraxis zu billigen und zu fördern, die nicht als objektiv auf die geoffenbarten Pläne Gottes hingeordnet anerkannt werden können". Ist doch super, dass Fahrzeuge ganz offensichtlich objektiv auf die geoffenbarten Pläne Gottes hingeordnet sind. Und falls ich mit meinem Zynismus doch falsch liegen sollte, streichen wir Fahrzeug-, Haustier- und sonstige Segnungen gleich auch.

... dass wir Menschen immer erst moralisch korrekt und sauber sein müssen, bevor wir uns Gottes Segen erhoffen können. Ja, ich weiß, der Segen einzelner homosexueller Menschen wird hier nicht verboten - aber ehrlich gesagt würde ich mir den Segen auch für Sünder erhoffen. Inwiefern der Sündenbegriff überhaupt für eine Veranlagung gelten kann, über die man nicht willentlich entscheidet, scheint mir sowieso äußerst zweifelhaft. Wenn er aber gelten könnte, wie ihn die Glaubenskongregation verwendet, so sind wir der eigentlich schon längst überkommenen Werkegerechtigkeit wieder einen Schritt näher: erst sauber, dann Segen. Nix mehr mit einem Gott, der uns entgegen- oder gar zuvorkommt.

Ok, ich überspitze hier natürlich etwas. Ich möchte wirklich nicht alles so heiß gegessen wissen, wie es aus Rom über die Alpen schwappt. Aber ich finde es wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Meine größte Frage ist hier eigentlich, wieso hier Segnung automatisch gleichgesetzt wird mit Sakramentalie. Die gesamte Argumentationslinie ließe sich ohne diese Gleichsetzung nämlich nicht durchhalten. Aber die Angst vor einer Verwechslung mit dem Ehesakrament scheint hier dazu zu führen, dass man die Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren lieber prophylaktisch verbietet anstatt hierfür Formen zu finden, die sowohl den kirchlichen Grundüberzeugungen als auch dem Bedürfnis der Menschen entgegenkommen.

 


Dienstag, 2. März 2021

Die Opferung meines Isaak


Schon seit Jahren begleitet mich der alttestamentliche Text der Opferung Isaaks. Ich weiß nicht genau, warum, aber diese Erzählung fasziniert mich auf eine eigentümlich vorrationale Weise. Bisher habe ich mich immer eher in der Rolle des Isaak gesehen, der mit seiner Angst umgehen muss, und der in meinen Augen trotzdem ein unglaublich großes Gottvertrauen gehabt haben muss. (Wer mit Musik etwas anfangen kann, möge sich das Lied "Isaak" der Band Janus anhören - unglaublich.)

Am vergangenen Sonntag kam der Text zur ersten Lesung - Fastenzeit eben -, und hat mich wie immer tief berührt. Aber während der Predigt kam mir diesmal ein für mich ganz neuer Gedanke: Was, wenn ich Abraham bin? Was, wenn die Kirche Abraham ist?

Abraham ist der "Stammvater des Glaubens". Als jemand, der in der Verkündigung gearbeitet hat und immer noch arbeitet, liegt es eigentlich nahe, sich stärker mit ihm als mit Isaak zu identifizieren. Und auch die Kirche steht in vielem näher an Abraham als an Isaak. 

Im Folgenden möchte ich einfach mal die Gedanken aufreihen, die mir kamen, und die mich immer noch beschäftigen. Nichts davon soll den Anspruch einer Exegese erheben, nichts davon passt wirklich gänzlich zum Bibeltext (die meisten Vergleiche hinken ziemlich schnell...), nichts davon will als Wahrheit verstanden werden. Aber alles davon halte ich für wert, dass ich (und vielleicht auch andere) darüber nachdenke und weiterdenke.

  • Als ich ins Kloster eingetreten bin, war ich bereit, meine Kinder zu opfern für dieses Leben. Ja, meine Kinder waren und sind nicht geboren, aber ich war bereit, die Möglichkeit von Kindern zu opfern für den Weg, den Gott mir gezeigt hatte. Möglicherweise ist es jetzt zu spät dafür, die Opferung meiner Kinder "rückgängig" zu machen.
  • Die Kirche opfert immer wieder ihre Kinder. Dort, wo kirchliche Mitarbeiter (Priester oder nicht ist hier nicht relevant) andere Menschen missbrauchen, opfern sie diese Menschen. Dort, wo sie den Missbrauch vertuschen und verschleiern, werden die gleichen Menschen ein zweites Mal geopfert.
  • Wieviel bin ich bereit zu opfern, wenn mir das Ziel groß und wichtig genug scheint? Bin ich bereit, meine eigene psychische Gesundheit aufs Spiel zu setzen, für einen Weg, der mir zwar an sich richtig erscheint, der mir aber im konkreten Alltag mehr abverlangt als ich bereit bin zu geben? Vielleicht ist auch Abraham ein Opfer, obwohl er eindeutig Täter ist.
  • Die Kirche opfert immer wieder ihre Kinder. Machtstrukturen, die um der Macht willen erhalten und verteidigt werden, lassen die Mächtigen über Leichen gehen, weil die Macht selbst sie blind macht. Das gilt für Bischöfe und Priester genauso wie für Ordensobere.
  • Abraham glaubte so sehr an Gott, dass er bereit war, dafür alles zu geben, einschließlich seines Sohnes und seines Verstandes. Kann das wirklich Gott sein, der sowohl den Sohn als auch den Verstand geschaffen hat, der das verlangt? Ist das nicht eher eine Form von Psychose?
  • Wenn bedingungslose Opferbereitschaft das Kennzeichen wahren Glaubens ist, ist dieser dann wirklich erstrebenswert?
  • Die Kirche opfert immer wieder ihre Kinder. Oft steht nicht die bedingungslose Liebe Gottes im Mittelpunkt der Verkündigung, sondern eigene Interessen. Dort, wo Bischöfe sich dafür entschuldigen, dass die Gläubigen die Kritik am Bischof ertragen mussten (sic!), geht es nicht mehr um Gott, sondern ums eigene Image. Auf die Wortverwandtschaft zwischen Image - imago - Götze muss ich wohl kaum hinweisen. Dort, wo Verhaltensregeln wichtiger sind als Intentionen, geht es nicht mehr ums Wesentliche, nicht um die Substanz, sondern nur noch um die Akzidentien.
  • Das Gelübde des Gehorsams ist zum Problem geworden. Es befreit nicht mehr so sehr von den eigenen Begehrlichkeiten als es an die Begehrlichkeiten der Anderen bindet. Das gilt sowohl für mich persönlich als auch für die Ordenslandschaft und die Kirche im Ganzen. Wir müssen uns dringend die Mühe machen, diesen Begriff sowohl theologisch als auch praktisch neu zu füllen, wenn wir ihn weiter verwenden wollen. Abrahams Gehorsam scheint mir kein geeignetes Beispiel zu sein, das zu Gott führt. Wenn im Namen des Gehorsams Menschen unterdrückt und geopfert werden, kann das nicht Gottes Willen entsprechen. Wenn in Ordensgemeinschaften über geistlichen Missbrauch gesprochen wird und gleichzeitig bei jungen Schwestern eine Form des Gaslighting praktiziert wird, damit sie besser "in die Gemeinschaft passen", kann das nicht Gottes Wille sein. Gehorsam darf nicht nur in eine Richtung gehen, und niemals seinen Endpunkt in einem Menschen haben.

Dienstag, 23. Februar 2021

Manche Dinge brauchen Zeit

Bald sind es zwei Jahre, dass ich aus der Gemeinschaft ausgetreten bin. Noch immer rede ich, wenn ich nicht bewusst darauf achte, von meiner Gemeinschaft. Aber auch, wenn ich diese Gemeinschaft noch immer liebe, bin ich mir sicher, dass der Schritt richtig war, und ich nicht mehr zurück will und kann. Mein Weg geht weiter, wohin auch immer.

Es hat lange gebraucht, bis ich jetzt endlich den Titel des Blogs geändert habe: aus "it's a nun thing" ist "aber nicht allein" geworden. Wahrscheinlich braucht diese Änderung kaum Erklärung - dass der alte Titel nicht mehr gepasst hat, war mir schon lange klar, aber was stattdessen kommen kann, hat seine Zeit gebraucht. "Barefoot... aber nicht allein" ist für meinen Geschmack grausiges Denglisch, und trifft damit auch sprachlich meine Lebensrealität. Mein Alltag spielt sich zum großen Teil zwischen den Sprachen ab, und trotz Corona weiß ich, dass ich zwar alleine lebe, aber nicht alleine bin. Mein Freund ist zwar nicht mehr mein Freund (auch das eine gute und richtige Entscheidung), aber das heißt nicht, dass ich auf Dauer notwendigerweise single bleiben muss. Mal sehen, wo mein Weg noch hinführt... eines ist mir weiterhin klar: alleine muss ich diesen Weg nicht gehen.

Jetzt muss ich nur noch einen neuen Text für die Unter-Überschrift finden... vielleicht dann in zwei Jahren oder so. Den Ausschnitt aus den Briefen von Klara an Agnes liebe ich zwar, aber irgendwie trifft er meine Realität nicht mehr so richtig.

Ach ja, eigentlich wollte ich heute einen wütenden Post über die Missstände in der Kirche schreiben, aber dann fiel mir auf, dass mein Blog immer noch einen neuen Namen braucht. Tja. Für einen zweiten (wütenden) Post reicht meine Motivation heute nicht mehr aus, daher kommt das irgendwann oder nie. We'll see.

Sonntag, 19. Juli 2020

Geradeaus oder nicht, wer weiß das schon?

Ewig ist es her, dass ich das letzte Mal hier etwas geschrieben habe, mehr als ein Jahr.
Ich glaube, ich sollte dringed mal den Titel des Blogs ändern. Mein Leben dreht sich nicht mehr um die Gemeinschaft, sondern mittlerweile mehr um den Alltag in der Schule, meinen Haushalt, und - ja, es war auch für mich überraschend, aber deshalb nicht weniger schön - meinen Freund.

Die Frage, was Berufung ist, beschäftigt mich noch immer. Ich bin im Augenblick der Überzeugung, dass ein statischer Berufungsbegriff theologisch nicht haltbar ist, also einer, der Berufung als etwas ansieht, was man einmal im Leben erkennt, und es anschließend 'nur' noch leben muss. Also genau das Verständnis von Berufung, dass mir entgegen schlägt, wenn mir eine ältere ehemalige Mitschwester sagt: "Ist doch gut, dass du rechtzeitig erkannt hast, dass du keine Berufung hast." Und ja, das tut mir weh, dass sie das so sagt und schlimmstenfalls auch noch meint. Ich habe eine Berufung, soviel ist sicher. Wohin sie mich führen wird, ist weniger sicher, oder zumindest mal mir nicht klar. Aber es war meine Berufung, in meine Gemeinschaft einzutreten. Ich bin Gott auf diesem Weg näher gekommen, und mir selbst auch. Beides halte ich für ein ziemlich eindeutiges Zeichen dafür, dass dieser Weg richtig war, ganz egal, ob er sich später als nicht gangbar erwiesen haben sollte oder nicht.

Ja, auch mich beeindrucken Menschen, die den Weg klar und deutlich erkennen, den Gott sie führt. Noch mehr beeindruckt mich, wenn sie diesen Weg dann unbeirrt gehen und auch im Leben feststellen, dass das richtig ist.
Schon vor einiger Zeit ist mir Sr. Clare Crockett im Internet begegnet, und sie beeindruckt mich zutiefst. Ich hoffe und bete, dass sie wirklich eines Tages heiliggesprochen wird. Wer sie noch nicht kennt - hier ist ein Film über sie, den ihre Gemeinschaft produziert hat:


Aber auch, wenn mich Sr. Clare beinahe umweht, weiß ich doch, dass Gott nicht mit jedem Menschen einen so klaren und erkennbaren Weg geht, und nicht immer alles im Leben geradeaus führt, auch nicht, wenn ich fest auf Gott vertraue.

Samstag, 4. Mai 2019

Neue Wege

Seit langem habe ich nichts mehr von mir hören lassen. Das war nicht einfach nur dem Trubel des Lebens geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass ich mich immer öfter und stärker mit der Frage konfrontiert sah, ob mein Weg im Orden wirklich der ist, den ich weiter gehen kann und soll. Kurz gesagt, es hat gekriselt. Heftig. Und ich habe die Krise nicht auf die leichte Schulter genommen. Darüber schreiben konnte und wollte ich nicht, solange ich selbst nicht zumindest eine Ahnung von Klarheit hatte.
Jetzt ist die Zeit der Klarheit da.
Ich habe mich entschieden, meine Gemeinschaft zu verlassen. Ich trete aus dem Orden aus, und werde meinen Weg mit Gott anders weitergehen. Wie genau dieser Weg aussehen wird, weiß ich noch nicht, aber ich vertraue darauf, dass Gott mir zeigen wird, welche Richtung ich einschlagen kann, um näher zu ihm zu kommen.
Es ist mir schwer gefallen, diese Entscheidung zu treffen, und es fällt mir auch jetzt schwer, in dieser Endgültigkeit darüber zu schreiben. Ich liebe meine Gemeinschaft sehr, und ich liebe auch das Ordensleben an sich sehr. Daran hat sich nichts geändert. Aber der Alltag hat mich an den Rand meiner Kräfte gebracht, körperlich und psychisch. So sehr ich dieses Leben leben will, ich kann es nicht. Ich bin zu schwach und scheitere daran.
Berufung ist in dieser Zeit ein schwieriger Begriff - ich war so sicher, eine Berufung zum Ordensleben zu haben. Aber wenn ich krank werde, wenn ich bleibe, habe ich denn dann keine Berufung? Oder wenn, wozu bin ich berufen?
Ich bin unendlich dankbar für die Zeit, die ich mit meinen Schwestern hatte. Wenn ich nochmal vor der Entscheidung stünde, die ich vor sieben Jahren getroffen habe, ich würde wieder in diese Gemeinschaft eintreten. Und ich bin unendlich dankbar dafür, dass ich mit absoluter Gewissheit weiß, dass Gott mit mir geht und mich weiterhin tragen wird, ganz gleich, wohin mein Weg jetzt führen wird.
Vielleicht muss ich den Begriff der Berufung neu verstehen lernen. Es ist ja nicht Berufung, im Kloster zu leben, sondern dadurch, dass man im Kloster lebt, Gott näher zu kommen. Es ist nicht Berufung, zu heiraten, sondern im Partner und gemeinsam mit dem Partner Gott näher zu kommen. Gott ist unsere eigentliche Berufung. Wenn der Weg zu ihm krumm verläuft, ist das verwirrend und manchmal beängstigend, aber in der letzten Zeit fällt mir immer wieder auf, dass die Bibel voll ist von solchen krummen Wegen. Scheitern gehört quasi zum Standardprogramm der Nachfolge. Irgendwie fällt es mir schwer, das für mich und mein Leben zu akzeptieren, aber ich hoffe, dass ich es irgendwann lernen werde, den Willen Gottes für mein Leben zuzulassen, auch, wenn ich dabei den Eindruck habe, rückwärts zu stolpern anstatt geradeaus zu gehen. Ich entdecke mehr und mehr, dass auch darin Gehorsam liegt - Gott wirklich alles überlassen, selbst auf die Gefahr hin, dass er mich barfuß über Scherben laufen lässt. Das ist das Bild, das mich innerlich begleitet: mit bloßen Füßen über Scherben, aber dennoch zu ihm.

Montag, 27. August 2018

Heim zur Hochzeit

"Zu deiner göttlichen Hochzeit,
die der Vater für dich, einziger Sohn, ausgerichtet hat,
rief auch mich die Stimme deiner Diener,
auf dass ich mich an deinen
unaussprechlichen Freuden erquicke,
schon hier auf Erden im Geheimnis deines Altares
und dereinst oben in der himmlischen Stadt,
in ewiger Freude,
unsagbar und unveränderlich.

Weil ich aber nicht das prächtige Kleid trage,
das des Hochzeitssaales würdig wäre -
denn ich habe das Kleid des heiligen Taufbrunnens beschmutzt
durch die schwarzen Sünden der Seele -
o unergründlicher Herr,
bekleide mich nun neu mit dir
und gib meinem ersten Kleid, dem jetzt beschmutzten,
den einstigen Glanz zurück.

Damit ich, Herr, deine Stimme nicht vernehmen muss,
wie sie das Wort 'Freund' ausspricht, voll Mitleid,
und dass ich ja nicht wie der Verräter
ins Verderben gestoßen werde für immer."

Hl. Nerses Schnorhali (1102-1173), gekürzter Text

Samstag, 23. Juni 2018

Vom Straßenrand aus

Letztes Jahr hatte ich den Christopher-Street-Day heimlich beobachtet, hinter den Gardinen im Wohnzimmer. Eigentlich wäre ich gerne raus auf die Straße gegangen, aber ich hatte Angst, angepöbelt zu werden, nicht erwünscht zu sein, oder mich einfach nur generell unwohl zu fühlen. Naja, unwohl war mir auch hinter den Gardinen.
Im Nachhinein habe ich mir vorgenommen, beim nächsten CSD rauszugehen, mich an die Straße zu stellen, und damit sichtbar zu sein. Der CSD nimmt seine Route hier auch deshalb durch unsere Straße, weil damit gegen die Kirche protestiert werden soll. Und irgendwie liegt es mir quer im Magen, dass unsere Straße an diesem Tag ausgestorben zu sein scheint. Keiner ist zu sehen, keiner steht sichtbar am Fenster. Ich finde aber nicht, dass wir uns als Kirche verstecken sollten. Im Gegenteil, ich finde, wir müssen sichtbar sein und ansprechbar und zum Dialog bereit. Ich teile nicht die Überzeugungen derer, die auf dem CSD mitgehen (ok, für Toleranz und Respekt bin ich auch, aber ich bin definitiv gegen Sexualisierung, kein Freund der Genderideologie, und finde nicht, dass jeder tun können sollte, was er will, und meine Definition von Liebe unterscheidet sich auch ganz grundlegend von der, der man auf dem CSD begegnet). Aber ich habe etliche Freunde, die so denken, und finde es wichtig, dass wir unsere Meinungen ausdiskutieren, uns vielleicht nicht einigen können, und trotzdem Freunde sind.
Also bin ich heute raus an die Straße gegangen. Es hat mich einige Überwindung gekostet, aber jetzt im Nachhinein bin ich mir sicher, dass es eine gute Entscheidung war.
Entgegen meiner Befürchtungen bin ich kein einziges Mal angepöbelt worden. Im Gegenteil, die Leute haben sich ganz offensichtlich gefreut, mich auf der Straße zu sehen. Viele kamen zu mir und haben kurz mit mir geredet. Manche Gespräche waren einfach nur nett, andere tief, und einzelne zutiefst berührend. Immer wieder haben mir Menschen gesagt, wie schön es ist, dass ich draußen stehe. Und ich habe mich sehr gefreut an der Buntheit und Vielfalt der Menschen und an ihrer Freude. In dieser Buntheit kommt mir Gott entgegen, und ich bewundere den Mut, mit dem heute viele unterwegs waren.
Etliche haben mich gefragt, ob ich den CSD denn gut finde und das Anliegen unterstütze. Darauf habe ich ehrlich geantwortet, dass ich die Anliegen nicht teilen kann, aber mich an den Menschen freue. Ich glaube wirklich, dass das die Aufgabe ist, die wir als Kirche haben: zuerst die Menschen zu lieben, und dann Rede und Antwort zu stehen. Jetzt im Nachhinein denke ich, dass heute für einige Menschen so etwas wie Versöhnung geschehen ist: Einer hat fast geweint, als er mich gesehen hat, kam her, hat mich gefragt, ob er mich umarmen kann, und fast nicht mehr losgelassen, alles ohne ein Wort. Jemand anderes hat mir von dem Schmerz erzählt, der ihn wegen seiner sexuellen Orientierung seit Jugend begleitet. Und immer wieder kamen Menschen, die mich einfach umarmen wollten.
Ich bin immer noch ganz berührt von all diesen Begegnungen. Mir ist heute Gott begegnet, völlig unerwartet, aber so deutlich, dass ich daran nichts rumdeuten kann. Er stand mit mir am Straßenrand, und er war mitten dabei beim CSD. Heute ist ein Stück Heilung und Versöhnung geschehen, und dafür bin ich zutiefst dankbar.